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Heimat ohne Hoffnung - Auswanderer aus Worringen nach Nordamerika im 19. Jahrhundert

Auswanderung als Phänomen und Thema des 19. Jahrhunderts

Nein - mutwillige Abenteurer waren es nicht, die Heimat und Freunde verließen auf der Suche nach einer neuen, lebenswerten Existenz. Für die Auswanderung gab es unterschiedliche in ihrer Dramatik für uns heute kaum noch vorstellbare Ursachen: Hunger, Existenznot und politische Unterdrückung ließen einen Entschluss reifen, der nicht nur den Mut für die Entscheidung auszuwandern erforderte, sondern anschließend eine dauernde Bewährung verlangte. Auswanderung war ein Schicksal. Viele Mythen ranken sich um dieses Phänomen, die es näher zu beleuchten lohnt.

Die Auswanderung nach Amerika war zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch kein Massenphänomen. Die meisten Menschen, die ihre Heimat verließen, waren bis in die 1830er Jahre Einzelauswanderer. Erst danach und bis etwa 1890 brachen zahlreiche Familien, manchmal auch ganze Nachbarschaften und Dorfgemeinschaften nach Amerika auf. Wichtigste Ursachen waren strukturelle Veränderungen in der Wirtschaft und Gesellschaft, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Verarmung breiter Bevölkerungsschichten geführt haben.
Die Lebensverhältnisse in Worringen waren zu dieser Zeit gleichfalls als ärmlich zu bezeichnen. Die Versorgung der meisten Einwohner war äußerst dürftig, weil das geringe Realeinkommen kaum zum Leben ausreichte. Die Schulkinder mussten mitverdienen, im Frühjahr und Herbst verrichteten sie nach Unterrichtsschluss Feldarbeit. Gründlich wandelte sich dies erst um 1870, als Worringen vom industriellen Aufschwung erfasst wurde und die altüberkommenen gesellschaftlichen Formen und Inhalte in Bewegung gerieten.

                        

Viele Menschen wanderten im Laufe des 19. Jahrhundert aus dem deutschsprachigen Raum bzw. dem Gebiet des späteren Deutschen Reiches aus. Die meisten gingen nach Nordamerika. Zwischen 1815 und 1848, dem Jahr der Revolution, verließen 600.000 Menschen das Gebiet des Deutschen Bundes. Zwischen 1816 und 1900 wanderten etwa 5 Millionen Deutschsprachige nach Amerika aus.
Die Zahl der Auswanderer nach Amerika lässt sich heute nur schwer genau ermitteln. Sie ist lange Zeit für nicht sehr hoch gehalten worden, was mit der unvollständigen schriftlichen Überlieferung zusammenhängt. Man brauchte eine Auswanderungserlaubnis, also eine offizielle Genehmigung. Die Behörden erhielten dadurch Kenntnis von den Auswanderungen, die beantragt wurden, für die also der erforderliche Konsens eingeholt werden musste, aber zahlreiche Auswanderer verließen auch ohne offizielle Erlaubnis ihre Heimat. In den Akten der jeweiligen Bürgermeisterei, bei der der Antrag gestellt wurde, in denen des Landrats, der ihn begutachtete, und in der Bezirksregierung, welche die Urkunde ausstellte, finden sich meistens also nur die bekannten Fälle, die der “erlaubten” Auswanderung.

                                                        

Wer wanderte aus?
In erster Linie verließen ihre Heimat die besitzlosen Menschen oder die, die durch den Wandel der Landwirtschaft zur Industrialisierung keine Arbeit mehr fanden. So gab es viele Kleinbauern und Handwerker, die hofften, in der "Neuen Welt" bessere Verhältnisse vorzufinden.
Die Industrialisierung hatte Mitte des 19. Jahrhunderts eingesetzt und alte Handwerksgewerbe waren nicht mehr gefragt. Dazu kamen dann all diejenigen, die auch aus politischen Gründen das Deutsche Reich verließen. Also vor allem die gescheiterten Revolutionäre der 1848er Revolution, die aus Verzweiflung ihre Heimat aufgaben. Gerade ihnen schien Amerika mit seiner doch freiheitlichen Verfassung ein besseres Pflaster als die reaktionären Kleinstaaten im späteren Deutschen Reich.
Erst Ende des 19. Jahrhunderts sollte sich das ändern, als sich das Deutsche Reich von einem Auswanderungsland in ein Einwanderungsland wandelte. Weil die Wirtschaft prosperierte, ging es auch vielen Menschen besser, und es bestand zumindest kein materieller Grund mehr, in die Fremde auszuwandern.

80 Tage auf kaum einem Quadratmeter
Die Schiffsreisen waren damals gar nicht so einfach. Man konnte ja nicht so einfach ins Flugzeug steigen und den Ozean überqueren. Zunächst musste man mit seinem Gepäck einen der sog. Überseehäfen erreichen. Das waren beispielsweise Bremerhaven, Hamburg oder Antwerpen. Mitte des 19. Jahrhunderts hatten die Passagiere auf einem Überseeschiff nicht mehr als 1,88 m x 0,63 m Platz, um zu schlafen, zu essen und die Fahrzeit zu verbringen. Die anstrengende Überfahrt dauerte zwischen 40 und 80 Tagen. Erst gegen Ende des Jahrhunderts wurde es dann besser, als moderne und größere Schiffe mit leistungsfähigen Maschinen zum Einsatz kamen, die die Fahrzeit dann auf etwa zwei Wochen verkürzten.

              

Die Brücken zur Heimat waren meist abgebrochen
Auswanderung war keineswegs eine Garantie für die sprichwörtliche Karriere „vom Tellerwäscher zum Millionär“. Allerdings haben viele Ausgewanderte in ihren Briefen an die Heimat durch ihre geschönten Berichte den Eindruck erweckt, in der neuen Heimat würde ihnen alles gelingen. Kein Wunder, dass die Daheimgebliebenen „hin und weg“ waren. Wenn man jedoch scheiterte, so führte auch oft genug kein Weg mehr zurück in die alte Heimat, denn man hatte ja dort alle Brücken abgebrochen. Doch wer ein Handwerk gelernt hatte und genügend Ausdauer besaß, erhielt eine Chance.
Trotzdem scheiterten viele in ihrer neuen Heimat. Weniger bekannt ist, dass eine nicht unbeträchtliche Zahl der Ausgewanderten wieder zurückkehrte, um Illusionen ärmer und an Erfahrungen reicher. Sie zogen „hin und wieder weg“, nämlich zurück in die alte Heimat. Aus den Akten des 19. Jahrhunderts wird abseits des Üblichen Geschichte in Geschichten lebendig. Es öffnet sich der Blick für das Unbekannte, das Ungewohnte und das Überraschende. Vergangene Lebenswelten werden konkret und rücken näher. Dennoch, die Radikalität früherer Lebensweisen bleibt heute Lebenden fremd. Erkennbar aber ist, dass hinter Schicksalen und manchen Tragödien die Kraft und der Mut der Menschen erstrahlten, die den Aufbruch ins Ungewisse wagten.

Familien- und Ahnenforschung
Anlass zum Bericht waren Aktenvorgänge zu Sterbeeintragungen von Worringer Passagieren auf dem Dreimaster “Vierge Marie“ im Jahr 1854. Die Annahme, dies würde höchstwahrscheinlich mit einer damaligen Auswanderungswelle zusammenhängen, wurde durch Nachforschungen bestätigt.
Ausführungen zur SV Vierge Marie + 1854
„On November 9th, 1854, the Belgian wooden barque VIERGE MARIE,
built in 1827 by Marguerie and owned at the time of her loss by
Spilliaert-Caymax, on voyage from Antwerp to New York, was
wrecked on Long Island. All 27 crew were saved.”
Übersetzung
„Am 9. November 1854 havarierte die belgische Holzbark VIERGE MARIE,
erbaut 1827 durch Marguerie und beim Verlust im Besitz von
Spilliaert-Caymax, auf der Reise von Antwerpen nach New York vor
Long Island. Alle 27 Mitglieder der Crew wurden gerettet.“
Von den an Bord untergebrachten rund 130 Passagieren starben während der Überfahrt 27 (Zeitungsausgabe: „The New York Herald, November 11, 1854, Morning Edition“).

                                                    Abb. 10 klein
                                                                                                             LAV NRW R, PA 2106 Nr. Worringen S 1855, Urkunde 59

Nach Eintragungen im Schiffstagebuch Oktober 1854 von Kapitän Gerardus Seykens fanden folgende Worringer auf der Überfahrt (vermutlich wegen einer Typhuserkrankung) den Tod:
Anna Maria Hüsch am 11. Oktober 1854 (25 Jahre alt) - Eltern: Jakob Hüsch (67 Jahre alt?), geboren in Worringen, und Margaretha geb. Axler (62 Jahre alt)
Margaretha Bachem geb. Hüsch am 11. Oktober 1854 (56 Jahre alt), Witwe von Johann Bachem
Wilhelm Weber am 12. Oktober 1854 (24 Jahre alt) - Ehefrau: Catharina geb. Mux
Heinrich Blum am 17. Oktober 1854 (34 Jahre alt), geboren in Worringen (Weiß?) - Ehefrau: Agnes geb. Hüsch (33 Jahre alt)
Margaretha Blum am 17. Oktober 1854 (4 Jahre alt) - Eltern: Heinrich Blum und Agnes geb. Hüsch
Margaretha Dormann geb. Nicolini am 17. Oktober 1854 (44 Jahre alt) - Ehemann: Friedrich Dormann
Friedrich Dormann am 18. Oktober 1854 (43 Jahre alt), geboren in Worringen - Ehefrau: Margaretha geb. Nicolini
Petronella Blum am 26.10.1854 (1 Jahr alt) - Eltern: Heinrich Blum und Agnes geb. Hüsch

Die meisten der typisch-detaillierten Passagier- und Abfahrtslisten der auslaufenden Schiffe für Auswanderer registrierten neben Familienname, Vorname sowie Geburtsjahr, Herkunftsland, Herkunftsort und häufig auch den Beruf. Sie sind damit eine überaus wertvolle Quelle für unsere Familien- und Ahnenforschung.
Ausgewertet wurde die Auflistung des Landesarchivs NRW - Abteilung Rheinland - Auswanderer aus dem Rheinland, Düsseldorf 1997. Die hieraus erstellte Tabelle der Auswanderer aus Worringen nach Nordamerika im 19. Jahrhundert siehe Abbildung 11.

                                                           

Jedoch verließen auch zahlreiche Auswanderer ohne offizielle Erlaubnis ihre Heimat. Daher unser Aufruf an Sie: Melden Sie uns mündliche Überlieferungen zu Auswanderern aus Worringen, die im 19. Jahrhundert gen Westen aufbrachen. Überlassen Sie uns persönliche
Familienunterlagen (Familienchroniken, Briefwechsel, Postkarten u. ä.). Wir möchten diese für die Forschung auswerten. Danach erhalten Sie Ihre Unterlagen selbstverständlich zurück.
Kontaktaufnahme:
Hans-Georg Decker Tel. 02206 6634 E-Mail Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. oder
Matthias Auweiler Tel. 0221 5901385 E-Mail Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. .
Während der Öffnungszeiten des Heimatarchivs ist in der Regel auch ein Teammitglied vor Ort.

Literaturquellen
Jahrbuch für den Rhein-Kreis Neuss 2011 (2012) des “Kreisheimatbund Neuss e.V.“
https://www.landesarchiv-bw.de/auswanderung-im-19.-jahrhundert
https://wrecksite.eu/wreck.aspx?207109
Ermittlungen von Hans-Georg Decker und Matthias Auweiler, Familien- und Ahnenforschungsteam Heimatarchiv Worringen
Abbildungsnachweise
1 Archiv Rhein-Kreis Neuss
2 - 9 https://www.google.de/auswanderer-nach-amerika-im-19.jahrhundert/abbildungen
10 Landesarchiv NRW - Abteilung Rheinland - PA 2106 Nr. Worringen S 1855, Urkunde 59
11 Landesarchiv NRW - Abteilung Rheinland - Auswanderer aus dem Rheinland, Düsseldorf 1997
12 https://www.findagrave.com/memorial/109024418/lersch

Bericht: Manfred Schmidt
heimatarchiv-worringen.de/Februar 2018